Das Projekt, ein von Italo Calvinos Lezioni Americane inspiriertes musikalisches Werk zu schaffen, entstand aus der Begegnung zwischen dem Komponisten Thomas Fortmann und Stefano Adami, der sich mit Leben und Werk des großen italienischen Schriftstellers beschäftigt.
Die Beiden gingen von dem Bedürfnis aus, Calvinos hundertsten Geburtstag nicht entsprechend den traditionellen Formen von Kongressen, Konferenzen und Studientagen zu feiern, sondern stattdessen verschiedene Ausdrucksweisen zu verwenden, um an einen der größten Gestalter der Weltliteratur des Zwanzigsten Jahrhunderts zu erinnern. Calvino verfasste die Lezioni Americane im Sommer 1985 im Auftrag der Harvard University als eine Art literarischer, philosophischer und kultureller Leitfaden, den die Menschen beim Eintritt in das dritte Jahrtausend mitnehmen sollten. Dieser Leitfaden formulierte Calvino anhand von sechs Grundwerten, die im neuen Zeitalter von Bedeutung sein würden. Die gesungenen Textpassagen bestehen aus den signifikantesten literarischen Beispielen, die Calvino aufführte.
Die Idee eines "literarischen Konzerts" ergibt sich also aus der Isolierung von Schlüsselpassagen aus jedem der sechs Kapitel und der Komposition musikalischer Entsprechungen, bei denen die Texte rezitiert oder gesungen werden. Dies ist eine neue Lesart dieses Werks, das Calvino als eine Art Vermächtnis konzipiert hatte und das er aufgrund seiner Krankheit, die Mitte September 1985 zu seinem frühen Tod führte, nicht mehr vollenden konnte.
Bemerkungen zur Komposition
Wie so oft in meinem Leben gibt es diese seltsamen Zufälle:
Ich sitze auf einer kleinen Terrasse in Syrakus und während ich seine Geschichte studiere, ruft mich Stefano Adami an, um mir vorzuschlagen, eine Komposition zu den Lezioni americane von Italo Calvino zu dessen hundertstem Geburtstag zu schreiben. Und ich in Syrakus mit Platon, Aischylos, Plutarch, dem Kaiser Barbarossa und demjenigen, der mich hier am meisten fasziniert: Archimedes, seine Kugeln und Zylinder und vor allem seine Spiralen – und wie er schwere römische Schiffe mit dem Leichtesten, nämlich mit in Spiegeln fokussiertem Sonnenlicht und brennenden Pfeilen auf den Meeresgrund versenkte.
In meinem Kopf überschnitten sich die Linien: hier Calvino mit dem ersten Kapitel leggerezza, die Leichtigkeit der Schwere, die Gravitationskraft, das "Gleichgewicht als ausgewogener Umgang mit Gewicht", und da Archimedes mit seinem "Gleichgewicht ebener Flächen" und ihrem Schwerpunkt - seinen Spiralen, die doch irgendwie musikalisch nachvollziehbar sein müssten als Tonreihen, welche sich mit einem konstanten Faktor entwickeln; und zwar vertikal von einem Ausgangspunkt in die Höhe und Tiefe und horizontal in die Zeit.
Eine Koinzidenz über Jahrhunderte hinweg.
Neben den verschiedenen Spiralen, die ich aus einem Zentrum heraus durch Verdoppelung der Intervalle nach oben und unten entwickelt habe, ist meine Komposition vor allem durch die Zwölftonmethode geprägt, wobei ich im Gegensatz zur Wiener Schule Melodien aus 12 Tönen erfinde und nicht als Reihen konstruiere, was im Allgemeinen zu einer fließenden Tonalität führt.
Für die gesungenen Passagen habe ich versucht, Gedichte oder Textfragmente zu nehmen, die Calvino als Beispiele für seine Thesen besonders hervorhebt. Musikalisch gibt es Momente, in denen sich Themen kreuzen, denn auch in Calvinos Vorlesungen ziehen sich thematische Querverbindungen eines dualistischen Denkens und Argumentierens durch alle Kapitel. (Leichtigkeit und Schwere - Geschwindigkeit und Verlangsamung - Exaktheit und Vagheit - Besonderheit und Vielheit).
Die Arbeit an den Harvard Lectures war für mich ein faszinierender Blick auf die künstlerischen, mathematischen und philosophischen Übereinstimmungen, die sich über die Jahrhunderte hinweg verflechten und die durch Calvino auch im neuen Jahrtausend ihren Ausdruck gefunden haben.
Grafeneck, viele Jahre Jagd- und Lustschloss Herzog Carl-Eugens von Württemberg war im 18. Jahrhundert ein Ort der Kultur an dem Musik, Oper und Ballett gepflegt wurde.1928 übernahm die Samariterstiftung das Schloss als Ort für behinderte Menschen. Im Jahr 1939 wurde es vom nationalsozialistischen Staat für „Zwecke des Reichs“ beschlagnahmt. Ab Januar 1940 bis in den Dezember desselben Jahres wurden dort 10654 Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke in einer Gaskammer ermordet.
Projekt
Bei dem Versuch die unvorstellbare Zahl der Opfer begreifbar zu machen wurde klar, dass es niemals nur um Zahlen gehen darf, sondern dass es wichtig ist den einzelnen Opfern wieder ein Gesicht zu geben. Unter den Händen von Jochen Meyder entstanden im Laufe der Jahre 10654 Terra- cotta Figuren, einzeln modelliert, mit individuellem Gesicht. Die Besucher der Gedenkstätte sind eingeladen eine Figur mit nach Hause zu nehmen. Sie können so eine posthume Patenschaft übernehmen, und einem Menschen wieder einen Ort des Gedenkens geben.
In der Auseinandersetzung mit der Installation „Grafeneck 10654“ von Jochen Meyder entstand bei Thomas Fortmann die Idee zu einem Gedenkkonzert für die Opfer. Nach Gesprächen mit dem Komponisten und Geiger Helmut Lipsky entwickelte sich daraus ein Konzert, das musikalisch die Geschichte des Schlosses nachzeichnet.
Die Musik
Das Programm beginnt mit einer Renaissance Introduktion, einer „Allemanda con Tripla“ von Thomas Fortmann. Es folgen je eine Komposition beider Autoren auf Themen aus den „Württembergischen Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach“, welche Herzog Carl Eugen gewidmet waren. Darauf setzt sich Helmut Lipsky in seinem Stück „Überm Sternenzelt sicher wohnen“, mit Schillers Ode an die Freude auseinander und der Abschluss bildet die Komposition Grafeneck 1940 von Thomas Fortmann, welche sich mit dem unbegreiflichen Geschehen in Grafeneck befasst. Alle fünf Stücke wurden eigens für dieses Gedenken geschrieben und verlangen eine ungewöhnliche Besetzung: Violine (plus elektrische Vl), Piano und Perkussionen.
Die Künstler
Jochen Meyder studierte Bildhauerei in Stuttgart und Nürnberg, Kunstgeschichte und Philosophie in Tübingen. Seine Arbeiten sind der Figur verpflichtet, werden aber oft collage ähnlich durch Fundgegenstände kontrastiert, und erhalten so eine neue Aussage. Die Auseinandersetzung mit den Morden in Grafeneck umfasst eine eigene Werkgruppe.
Helmut Lipsky studierte Violine, und war zeitweise Schüler von Ithzak Perlman in New York. Er ist Professor am Konservatorium in Montréal und spielt als Solist mit führenden Orchestern und in verschiedenen Kammermusikensembles. Er schreibt Musik für Theater und Film.
Lee und Loh, die zwei übermächtigen himmlischen Influencer, vergewissern sich ihrer Macht, indem sie gegenüber einer zufälligen Passantin Schicksal spielen. Sie schlüpfen in die Identitäten ihres Liebhabers, ihrer Eltern und anderer Menschen aus ihrer Umgebung und gaukeln ihr die Erfüllung ihrer innigsten Wünsche vor. Sie manipulieren sie und machen sie abhängig von ihren Geschichten, bis sie sie schliesslich zerstören.
Zwei Sänger:innen und zwei Artist:innen erzählen die Geschichte eines philosophischen Experiments, in der ein Mensch zum Spielball höherer Mächte wird. Es spielt das Aarauer Ensemble Tacchi Alti.
Der Komponist Thomas Fortmann wandte sich nach einer erfolgreichen Rock-Karriere schon früh der zeitgenössischen Moderne zu. Seine Musik schöpft aus einer eigenen Auffassung, Musik mit 12 Tönen zu schaffen. Sie ist geprägt von einer Vielfalt an Stilmitteln, bei denen sich Konstruktion und sinnliche Wirkung keineswegs ausschliessen. Der Aargauer Schriftsteller Christian Haller, der dieses Jahr seinen 80. Geburtstag feierte, erhielt unter anderem den Aargauer Kunstpreis und den Schweizer Buchpreis 2023 für seine von der Kritik gefeierte Novelle «Sich lichtende Nebel».
Das Stück
Wir leben in einer Zeit, in der versucht wird, eine Behauptung zu einer Tatsache zu machen, durch Lügen Menschen zu manipulieren, mit Verschwörungstheorien Leute auf-zuhetzen. „Götterspiele“ sucht für dieses Phänomen eine theatralische Umsetzung: das Stück geht der Frage nach, was Wahrheit und Wirklichkeit in ihren Grundzügen sind, wel-chen Anteil wir an ihren Konstrukten haben, und wie sie manipuliert werden können. Menschen vertrauen dem Anschein, doch der ist oftmals vorgespiegelt und veränderbar, und dieses Prinzip wird im Stück angewandt, um eine junge Frau in Abhängigkeit zu bringen, sie allmählich in die Verzweiflung zu treiben und zum Opfer eines zynischen Spiels zu machen.
Dramaturgisch werden zwei Motive verknüpft, das Hiob-Motiv der Wette mit dem der Täuschung des Amphytrion: Die beiden Götter, eine Art übermächtige Influenzer, verwandeln sich in Figuren, welche die junge Frau für ihre Eltern, ihren Freund, ihre Be-kannten hält. In diesen Rollen versuchen die Götter, das Mädchen zu manipulieren, es allmählich durch Abhängigkeit schuldig zu machen – was ihnen beinahe gelingt.
Inhalt
Zwei vergessene, zerlumpte Götter beschliessen, sich der Welt zuzuwenden und zu prüfen, ob die Menschen noch ein von ihnen bestimmtes Schicksal haben, obwohl sie nicht mehr an die Götter glauben. Lee und Loh wählen eine junge Frau für ihr Experi-ment aus, verwandeln sich in Figuren aus deren Lebenskreis. Diese Figuren sind wie Ava-tare, sie stellen nur vor, was sie real nicht sind. Es ist vor allem Benni, ihr Freund, der ver-schwunden ist, in dessen Figur einer der Götter zurückkommt und versucht, durch Aben-teuergeschichten die junge Frau wieder für sich einzunehmen. Er erzählt, wie er ausbrach aus dem miefigen Alltag, und auf einem Schiff schwarz hinunter zum Äquator gefahren ist: Joseph Conrad nachempfundene Seegeschichten. Die Frau wird mehr und mehr in ein Lügengespinst verstrickt, das stets neu und gefährlicher umgedeutet wird. Waren es zu Beginn noch Abenteuer, zielen die Geschichten später darauf, die junge Frau in das Ge-schehen hineinzuziehen und sie schuldig werden zu lassen. Schliesslich wird sie in einen Wahn um Benni getrieben, dessen Geschichten sie wie ein Mantra eigenen Erlebens vor sich hinspricht, bis sie an den Punkt gelangt, da sie das Spiel und die Götter durchschaut, auch wenn das nicht reicht, um zu einer Lösung zu kommen.
Die Wiederholung von Motiven und Geschichten, von Passagen machen das Stück zusätzlich zur theatralischen Dramatik zur Vertonung geeignet.
Theater Alte Reithalle Aarau: Uraufführung 1. März 2024 in Zusammenarbeit mit den Ensembles Kunos Circus Theater und Ensemble tacchi alti zu Ehren des 80. Geburtstag von Christian Haller.
MITWIRKENDE
MIT: Joseph Gremaud (Akrobatik) -Bennie, Wolf Latzel (Bariton) -Lee, Marylaure Pugin (Akrobatik & Gesang) -Passantin & Raimund Wiederkehr (Tenor) -Loh.
MIT UNTERSTÜTZUNG VON: Aargauer Kuratorium, Aargauische Stiftung für Gesang und Musik, Hans und Lina Blattner-Stiftung, Fondation Suisa, Lebensraum Aargau, Pro Argovia Kaktus, Schweizerische Interpretenstiftung, Müller & Schade Verlag.
Prolitheus Pfenninger liest in der Eisenbahn ein liegen gelassenes Buch. Es ist die schlechteste und unmöglichste Lektüre die ihm je in die Finger kam. Doch es sollte das Buch werden, mit dem er sich am längsten beschäftigt. Die ersten Seiten werden von ihm anfänglich noch während der Fahrt aus Langeweile und Ekel mit Filzstift und Tipp-Ex malträtiert: er streicht ganze Textblöcke durch und lässt nur einzelne Wörter oder Satzteile stehen. Im Laufe der nächsten 20 Monaten verfeinert er seine Décollage Technik. Anstelle des Ekels setzt er als geistigen Überbau die Poesie. Das heisst, jede Seite wird einzeln zu einem eigenständigen Studienobjekt. Der ursprüngliche Originaltext bietet verschiedene, aber doch beschränkte Möglichkeiten durch die vorgegebene Wortwahl. So arbeitet er an einer Seite manchmal tagelang, bis sie ein völlig neues Gesicht hat. Am Ende ist die ursprünglich erzählte Geschichte weggestrichen und die von ihm behandelten Seiten sehen aus wie Bastarde zwischen konstruktiver Malerei und totaler Willkür. So habe ich das Buch zum ersten Mal gesehen.
Das Libretto ist eine von mir zusammengestellte Collage aus dem verbalen Restposten, den Prolitheus auf den Buchseiten übrig liess. Ich habe diesen Restposten in 10 Themenordnern gesammelt und danach alles neu zusammengesetzt. Das Libretto ist also eine Collage aus einer Décollage. Eigene Ergänzungen beschränkte ich auf die Liedtexte. So entstand die Handlung, so wurde der Text komponiert.
Musik
Mein musikalisches Konzept für das Stück könnte man umschreiben mit „Einheit in der Vielfalt“.
Tatsächlich kommen ganz verschiedene Strömungen der gegenwärtigen Musikstile zusammen. Konstruktion und Vitalität, Logik und sinnliche Wirkung sollen sich verbinden um auch gegensätzliche musikalische Visionen zu einer Einheit zu bringen. Indem ich versuche den einzelnen Titeln jeweils die, ihrem Gehalt entsprechend geeignete Form und Stil zu geben, verlasse ich mich auf meine eigene und freie kompositorische Entscheidung. So liegt die Musik denn zwischen allen Fronten, resp. spielt und kokettiert mit ihnen, indem sich Kompo-sitionstechniken der neueren E-Musik mit rhythmischem Empfinden des Jazz und dem Lebensgefühl des Rockzeitalters vermischen. Dabei resultiert keinesfalls eine Art Crossover, sondern stets ein originaler Ausdruck von zeitgenössischem Musikbewusstsein: ein "Sturm und Drang"-Stück, mit der entsprechenden Absicht, eine aufklärerische Periode des Musikschaffens zu überwinden.
Als eine Vorstudie habe ich eine 6-sätzige Suite für Klaviertrio geschrieben - Prolitheus Suite - welche an der University of Texas uraufgeführt wurde, mit Wiederholungen in der Moores Opera, Houston, sowie an zwei italienischen Festivals und der Carnegie Hall in New York.
Und noch etwas: trotz meinem Hang zur „Zwölftönigkeit“, und obwohl mein musikalischer Ausdruck von heute verschieden ist, fühle ich mich verbunden mit dem spezifisch deutschen Musiktheater, welches es u.a. durch Eisler und Weill verstanden hat, dass Kunst und Gassenhauer sich nicht gegenseitig ausschliessen müssen. Und so möchte ich mein Vaudeville für Leontine durchaus als moderne Fortsetzung dieser Tradition sehen.
Die von Sestini und Moroni überlieferten volkstümlichen Legenden in „Ottava Rima“, Donizettis Oper und die Kinematographie Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählen uns melodramatische Geschichten, die in einer Vision des neunzehnten Jahrhunderts verankert sind.
Die Handlung folgt einer originalen Interpretation, die eng mit den wenigen Versen der Göttlichen Komödie verbunden ist und von strenger und moderner historischer Forschung unterstützt wird.
Das Ergebnis ist ein viel spannenderes Drama als die traditionellen Legenden offenbaren.
Andrea Rola (Tollo degli Alberti di Prata / Ghino)
L’Accademia Amiata Ensemble:
Jana Hildebrandt (Flöte)
Antonio Galella (Klarinette)
Davide Vallini (Saxophon)
Gigi Dalicandro (Trompete)
Ettore Candela (Klavier)
Claudio Cavalieri (Violine)
Laura Gorkoff (Violoncello)
Riccardo Cavalieri (Gitarre)
Carlo Bellucci (Bass)
Federico Poli (Schlagzeug & Perk.)
Valter Neri (Tontechniker)
ad lib. Laienchor
Projektleitung:Kulturverein Polis 2001
Unser Verein, der professionell im Bereich Theater und Musik tätig ist, arbeitet seit vielen Jahren in der Provinz Grosseto und außerhalb für besondere Initiativen von hohem kulturellen und künstlerischen Niveau.
Wir betrachten das Werk von bemerkenswerter Originalität und Modernität, deshalb haben wir beschlossen, die Rolle des Produzenten zu übernehmen, gerade wegen seiner Eigenschaft, die in dieser Phase des Wandels und der neuen Herausforderungen für die Kultur ein Modell der künstlerischen Produktion darstellen kann und auch für junge Zuschauer interessant ist.
Ein weiterer Grund für diese Wahl hängt mit dem literarischen Teil des Werkes zusammen, der die Aufmerksamkeit auf eine faszinierende Figur wie Pia De' Tolomei lenkt, die sich zwischen Legende, Geschichte und poetischer Erzählung bewegt, ausgehend vom Dichter Dante Alighieri, dessen 700. Todestag sich 2022 jährt.